An dieser Stelle möchte ich Ihnen eigene Kurzgeschichten mit auf den Weg geben. Diese Texte sollen Ihnen Trost spenden - aber auch zum Nachdenken anregen. Ich verwende diese eigenen Geschichten selber aus Anlass der von mir gehaltenen Trauerreden. Sie sind herzlich eingeladen, sie wiederum zu verwenden und zu vervielfältigen. Bitte seien Sie dann so freundlich, meinen Namen mit zu erwähnen - Danke.
Da gab es diese alte Frau. Sie war zu gebrechlich, ihre eigenen vier Wände zu verlassen. So hatte sie viel Zeit nach zu denken und sie verbrachte ihre Tage erinnernd: An ihr Leben, das was sie geschafft hatte, die Söhne, die sie erzogen hatte und die längst ihrer eigenen Wege zogen. An den Mann, mit dem sie alles das in vertrauter Partnerschaft gemeistert hatte und der schon vor Jahren seinen Gebrechen erlegen war. Die Frau dachte über die vielen schönen Dinge nach, die sie erlebt hatte: Fröhliche Feste mit einer großen Familie. Zusammenkünfte mit Freunden bei denen getanzt und gesungen wurde. Reisen in aller Herren Länder mit fremden Kulturen und paradiesischen Landschaften. Sie hatte Aufgaben, die ihr gestellt wurden, tüchtig und oft in Gemeinschaft mit vertrauten Menschen gemeistert.
Nun gehörte alles das der Vergangenheit an. Freunde starben. Vertraute entfernten sich. Angehörige waren beschäftigt. Die Zeichen der Zeit änderten sich und der Frau kam es so vor, als gingen die Menschen weniger unter Freude, als es noch in ihrer Jugend der Fall, gewesen war. Und als die Jahreszeit kalt, regnerisch und dunkel wurde zogen sich alle Menschen zurück an den Kamin und gingen noch weniger vor die Tür, als sie das in dieser neuen Zeit eh zu tun schienen. Die Frau war allein.
Doch sie wollte nicht verzweifeln und schickte sich an, alles so zu tun, wie sie es seit jeher gemacht hatte. Schließlich war der bevor stehende heilige Abend immer der fröhlichste Tag für die ganze Familie gewesen. Die Kinder hatten gelacht und die Augen waren vor freudigem Erstaunen weit aufgerissen, als sie den leuchtenden Tannenbaum das erste mal sahen, wo heute nur noch ein leerer Tisch stand. Die ganze Familie hatte die dunklen Nachmittage genutzt, Plätzchen zu backen, nur um sie - sie waren noch garnicht ganz abgekühlt - freudig und voll Genuss wieder zu naschen. Der Mann der Frau hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, zu Weihnachten selbst zu kochen. Das war jedes mal ein Fest und jeder musste vor seinem Stolz über die kulinarische Meisterleistung heimlich in sich hinein grinsen. Schließlich waren das wieder einmal die besten aufgewärmten Würstchen jemals und der Kartoffelsalat schmeckte jedes Jahr besser.
Und auch dieses Jahr tat die alte Frau alles genau so wieder, wie sie es all die Jahre zum Fest gemacht hatte. Sie backte Plätzchen, schmückte einen Tannenzweig und kaufte eine Wurst mit einer Portion Kartoffelsalat. Der heilige Abend konnte kommen.
Es wurde mit jedem Tag dunkler. In diesem Jahr schien es wieder einmal keinen Schnee geben. So wurde es nasskalt draußen und die Menschen verkrochen sich in ihren Stuben, zündeten ihre Kerzen an und die Kinder übten Weihnachtslieder auf ihren Flöten. Die Häuser waren wie immer um diese Jahreszeit gut geheizt und erfüllt vom Duft des brennenden Bienenwachs und der Lebkuchen. Nach dem leckeren Abendessen bekamen die kleinsten noch einen heißen Kakao und die Eltern gönnten sich einen aufgewärmten, roten Wein oder warmen Apfelpunsch. Die Welt kam für ein paar Tage zur Ruhe und die Familien rückten zusammen, um sich zu besinnen. Was für eine gemütliche Zeit!
Nur die alte Frau blieb alleine. Ihre Kinder konnten nicht kommen, so fern waren sie. Andere Verwandte hatte sie aber nicht. Freunde und Bekannte - wenn sie denn noch lebten - waren selbst zu alt, um noch aus dem Haus zu gehen oder wurden von ihren Lieben geholt, um die Tage mit diesen zu verbringen. So backte die Frau zwar Plätzchen, dekorierte einen Zweig und steckte den alten Strohstern oben auf - sie wärmte sich ein Würstchen auf, wie es ihr Mann früher für alle gemacht hatte und sie steckte eine Kerze an - doch weihnachtlich wollte es nicht so recht werden.
Und es kam der heilige Abend. Die Welt wurde noch stiller. Niemand war mehr auf der Straße vor dem Haus. Von ferne schallte Glockengeläut herüber und selbst die Hunde in der Nachbarschaft hörten auf zu bellen - schienen zu spüren, dass dieser Abend ein anderer war als sonst. Feierlicher, stiller, hell erleuchtet aus den Häusern der Menschen und doch dunkler irgendwie.
So setzte sich die einsame, alte Frau in ihren Sessel und hing ihren Erinnerungen an fröhliche Tage aus der Vergangenheit nach. Nein - verbittert war sie nicht. Sie wusste ihre lieben in froher Runde mit leuchtendem Christbaum, lachenden Kindern und Bergen von zerrissenem Geschenkpapier drumherum. Nein verbittert war sie nicht. Vielleicht ein kleines bisschen traurig.
Mit einem mal klopfte es an der Tür. Es war schon weit nach 6 Uhr. Die Dunkelheit vor der Tür war schwarz und das Wetter trübe. Die Frau schreckte hoch. Wer sollte denn an solch einem Tag um solch eine Uhrzeit wohl noch sein Ansinnen vortragen. Es war Dekaden her, dass sie in solch einer Situation fröhlich jubelnd zur Tür geeilt wäre, im Glauben es wäre der Weihnachtsmann, der nun endlich mit seinem Gabensack vor der Tür stünde. Der Gedanke und der kurze Blitz der Erinnerung ließen die Frau kurz schmunzeln. Dann aber legte sie ihre Stirn in Falten. Wer sollte jetzt nur kommen? Sie erhob sich aus ihrem Sessel und ging zur Tür.
Vorsichtig öffnete sie diese. Und es war, als träfe sie der Schlag:
Draußen standen ihre beiden Söhne, deren Frauen mit insgesamt 4 ihrer Enkelkinder und einem Tannenbaum unter dem Arm. Die Kinder hatten die Arme voll mit bunten, in Geschenkpapier gewickelten Paketen. Alle strahlten die Frau an und die Kleinen rannten auf sie zu, fielen ihr in die Arme und krakeelten aus vier kleinen Organen “Fröhliche Weihnachten Oma”. Die Erwachsnen kamen hinterher und reihten sich ein. Es war ein riesiges, unübersichtliches Knäuel von Armen, Mützen, Geschenken und mittendrin einem Weihnachtsbaum. Was für eine Überraschung!
Als alle sich im Wohnzimmer versammelt hatten, die Wintermäntel in die Ecke geworfen waren und man sich von seinen sieben Sachen entledigt hatte, begann sofort das geschäftige Treiben. Die jungen Frauen verschwanden in der Küche nachdem sie der Schwiegermutter nachdrücklich zu verstehen gegeben hatten, dass diese sich nun gehörigst in ihren Sessel zu verdrücken hätte. Die jungen Männer waren eifrigts damit beschäftigt, den Baum möglichst perfekt ein zu richten und die Kinder fingen unverzüglich an, ihn mit allerlei Schmuck zu behängen, den sie auf dem Dachboden des alten Hauses ausfindig gemacht hatten.
Die alte Frau beobachtete alles dieses mit Tränen in ihren Augen und konnte ihr Glück nicht fassen. Das war es, was sie ihren Söhnen zeitlebens versucht hatte, mit auf den Weg zu geben. Es gibt nicht schöneres und besseres, als die Familie. Wenn alles um dich herum dunkler erscheint als sonst, dann wird sie da sein um Licht zu bringen. Wenn niemand mehr da ist, dann werden Deine nächsten sich deiner besinnen und für dich da sein. Wenn du glaubst alleine zu sein, dann wird deine Familie um dich sein. Und wenn du das in dein Herz schließt, ist jeder Tag wie Weihnachten.
Es gab einen Mann. Der hatte ein wechselhaftes Leben. Es geschah ihm viel gutes aber wie in jedem anderen Leben musste er auch lernen, Schicksalsschläge hin zu nehmen. Er hatte eine Familie und konnte stets gut für sie sorgen. Mangel mussten er und seine Lieben nie erleiden. Wenn der Mann Ruhe suchte, zog es ihn in die Natur um dort Abstand zu gewinnen. Das Rauschen der Blätter im Wind. Das Plätschern der Wellen am großen Fluss. Das Zwitschern der Vögel in den Wipfeln und fröhliche Kinderstimmen im Spiel. Alles das tröstete den Mann. So ging sein Leben dahin tagein tagaus. Noch in jungen Jahren fand der Mann die Kraft, Unbilden zu bekämpfen und Steine, die ihm auf seinem Weg in den Weg gelegt wurden zu umgehen. Doch es kam die Zeit, da es ihm immer schwerer fiel dieses zu tun. So zog er sich mehr und mehr zurück und die Ausflüge in die heilende Natur wurden länger und häufiger. Grüblerisch saß der Mann nun oft an seinem Lieblingsplatz. Dort hing er seinen Gedanken nach und hoffte auf Antworten auf die ihn bedrückenden Fragen. Allein, diese wollten sich nicht einstellen. Die Zeit ging dahin und irgendwann einmal wurde dem Mann klar, dass es Zeit war, ab zu treten. Wieder saß er dort und dachte nach. Die Steine auf dem Weg vor ihm waren wie die gesammelten Lebensereignisse. Manche waren rund und glatt. Andere wiederum eckig und mit scharfen Kanten versehen. Manche Steine waren kaum sichtbar im Staub und einige stellten ein Hindernis dar, über das der unachtsame Wanderer wohl zu stolpern vermögen würde. Aber alle diese Steine Hatten ihre eigene Schönheit. Waren nicht alle diese in langer Zeit zu dem geworden, was sie nun darstellten? Und waren sie nicht alle in ihrer Gesamtheit ein vollkommenes Bild? Gehörten hier her und wären nirgendwo Sonst vorstellbar. Das erfüllte den Mann mit Erkenntnis und Trost. Sein Leben war wie diese Steine vor ihm: All die unterschiedlichen Lebensereignisse - ganz gleich ob fröhlich oder belastend - summierten sich zu einem Gesamtbild und bildeten einen wunderschönen Waldweg der von irgendwo kam und irgendwo in der Ferne sein Ziel erreichen mochte. Der Mann zog nach Hause und legte sich zur Ruhe. Doch bevor er Ganz ging, schrieb er seinen Lieben die folgenden Zeilen: Mein Pfad war steinig doch eingebettet in Schönem. Schaut die Steine auf dem Weg im Wald an und denkt an unsere gemeinsame schöne Zeit. Irgendwann werden wir uns wieder sehen. Bis dahin sammelt die schönen Steine auf und pflastert mit diesen guten Erinnerungen eure weitere Zeit.
1)
Es gab einen Mann der arbeitete stetig und fleißig um sich und seinen Lieben ein besseres Leben bieten zu können. Er frisierte den Menschen die Haare, er föhnte den Damen die Aufsehen erregendsten Frisuren und stutze den Männern die Bärte. Er tat dies eifrig tagein und tagaus. Viele Kunden kamen von nah und fern, denn es hatte sich herum gesprochen, dass der Friseur tüchtig und zeitsparend arbeitete. Flink flog dessen Schere durch allerlei Kopfschmuck. Behend ging er mit dem Barbiermesser um ohne jemals auch nur einen seiner anspruchsvollen Kunden zu verletzen. Mit allerlei schnellen Griffen und Kniffen zauberte er in Windeseile Turban-artige Gebilde aus den vollen Haaren so mancher Kundin.
Spät Abends, wenn er von getaner Arbeit nach Hause kam, setzte er sich zu seinen bereits schlafenden Kindern ans Bett und schaute in die friedlichen Gesichter. Welch tiefer Frieden lag über der Vertrautheit und Sorglosigkeit dieser kleinen Geschöpfe. Sein Herz machte so jeden Abend kleine Sprünge.
Danach setzte der Mann sich zu seiner Frau und sie berichtete dem Friseur von den Höhen und Tiefen des Tages. So manchen Abend waren Probleme zu besprechen oder die Gattin fragte ihren Mann um Rat. So konnten die beiden über die Jahre manches Unheil von der kleinen Gemeinschaft abwenden und über die lange Zeit eng aneinander rücken. Sie verstanden sich auch ohne viele Worte.
An den spärlich, gesähten freien Tagen des Friseurs zog es diesen in die freie Natur. Er genoss das Rauschen der Baumwipfel, das Singen der Vögel oder das Plätschern des Baches im Wald. Mit ausgreifenden Schritten konnte er über den weichen Boden unter dem Blätterdach wandern und so in Einklang mit der Schöpfung kommen. Wenn er zurück kam saß der Mann mit seinen Freunden zusammen und sie konnten zusammen lachen und sich an den kleinen Freiheiten freuen, die das Leben für sie bereit hielt.
So ging es über die Jahre dahin. Des Morgens schloss der Mann wieder seinen Frisiersalon auf und schon strömten die Kunden herein und die fleißigen Helfer des Friseurs wirbelten um ihn herum, dass es eine Freude war. Oft jedoch musste er sie beaufsichtigen, korrigieren und ihnen sein Handwerk ganz in seinem Sinne zeigen. Die kurzen Pausen des Tages nutzte der Mann, um hinter den Kulissen Nachschub für seine Tinkturen, Sprays und Wässerchen zu bestellen oder seine Bücher auf den neusten Stand zu bringen. Ehe er sich's versah, war die Zeit dahin und wiederum war ein Tag verronnen.
Schnell flossen die Jahre dahin. Immer erfolgreicher wurde der Friseurbetrieb des Mannes und schon bald konnte er sich eine Dependance in einem anderen Stadtteil leisten. Hier musste er nun hier und da einmal selber vorbei schauen, um nach dem rechten zu sehen. Aber das Geld sprudelte und er konnte sich und seiner Familie ein größeres und schöneres Haus leisten. Seine Kinder gingen nun auf eine noch angesehenere Schule in einem weit entfernten Stadtteil.
Ja - der Mann war erfolgreich - verdiente viel Geld - war bekannt für seine Künste. Seine Zeit mit den Freunden und seiner Familie wurde zunehmend weniger. Das war nicht so schlimm, denn seine Frau hatte nun das Geld, um sich mit allerhand kostspieligen Nebensächlichkeiten die Zeit zu vertreiben und die Kinder waren zu beschäftigt, ihrem Erfolg nach zu gehen.
Der Mann fragte sich: Wird nicht mit der Zeit die Zeit immer wichtiger?
2)
Schnell verdrängte er die Frage denn die Eröffnung seines 3. und 4. Frisiersalons stand an. Ja - das Geschäft brummte. Als Friseur selber trat der Mann gar nicht mehr in Erscheinung. Viel zu beschäftigt war er mit der Verwaltung seiner vier Läden. Im Büro erstellte er Dienstpläne seiner zahlreichen Angestellten, kümmerte sich um Ersatz wenn mal einer krank war oder nicht zur Arbeit erschien und sorgte dafür, dass in den Verkaufsregalen immer genügend Artikel vorhanden waren, die seine Kunden gerne mit nach Hause nahmen.
Seine Frau sah der Mann nur noch wenn er ins Bett ging. Seine Kinder waren längst aus dem Haus und lebten ihr eigenes Leben - tatkräftig unterstützt mit Finanzmitteln des reichen Vaters. Die Freunde die er so oft nach seinen Waldspaziergängen aufgesucht hatte und mit denen er einst so viele fröhliche Stunden verbracht hatte, gab es nicht mehr. Seinen Platz in deren Runde hatte nun ein anderer eingenommen.
Alles das kümmerte den Friseur nicht sonderlich denn er war viel zu beschäftigt damit, sein gewachsenes Unternehmen am laufen zu halten. Es erfüllte ihn mit Stolz, dass er es schaffte, alle seine Untergebenen zu ernähren und sich den Ruf eines erfolgreichen Geschäftsmannes zu erarbeiten. Er war nun kein kleiner Friseur mehr, sondern ein angesehener Mann in der Stadt. Die Leute auf der Straße grüßten ihn freundlich doch hinter seinem Rücken konnte man sie reden hören: Habt ihr gesehen? Unser Friseur hat Sorgenfalten. Er scheint gestresst zu sein. Er selber nahm das nicht zur Kenntnis sondern arbeitete weiter von früh bis spät und immer weiter ohne Unterlass.
So geschah es, dass der Mann kränklich wurde und öfter beim Arzt vorstellig war, als ihm lieb gewesen wäre. Der Doktor verschrieb ihm Salben und Pillen um Schmerzen zu lindern oder ihn weiter auf Trab zu halten. Denn Zeit, um sich aus zu kurieren - das hatte der Friseur nicht. Die mahnenden Worte seines Arztes, sich doch auch einmal Zeit für sich selber zu gönnen, verhallten ungehört. Wer solle sich denn dann um alles kümmern, antwortete der Patient und ging zurück an die Arbeit.
Auf einer seiner Inspektionsbesuche in einem seiner Läden allerdings zog ihn plötzlich ein kleines Mädchen am Rockzipfel. Als er auf das Kind herab blickte, sah er große, neugierige Augen in einem wunderhübschen Gesicht, eingerahmt von hellen Locken. “Bitte Herr Friseur”, sagte das Kind “darf ich mich einmal zu dir setzen?”. Gerührt von solcher Naivität, suchte der Friseur einen Sitzplatz und nahm das Mädchen auf den Schoß. Das geschäftige Treiben seines Frisiersalons um die beiden herum versank ein bisschen als das Kind den Mann ansah und sagte: “Du siehst krank aus. Meine Mama hat erzählt, dass sie früher immer von Dir frisiert wurde. Aber das ist wohl schon lange her. Warum schaust Du so gehetzt in die Runde? Gefällt Dir nicht was, Du siehst?” Der Mann atmete tief aus, lehnte sich tiefer im Stuhl zurück und antwortete dem Mädchen nachdem er lange nachgedacht hatte: “Kind, Du hast recht. Ich bin getrieben von meinen eigenen Zielen. Immer höher sollten diese sein und immer mehr wollte ich erreichen. Es stimmt was Du sagst. Früher habe ich meinen Kunden die Haare selber frisiert und alle waren glücklich damit. Heute kann ich das nicht sagen. Ich glaube, mit der Zeit wird meine Zeit immer wichtiger.” Das Kind schaute dem Mann interessiert ins Gesicht und fragte. “Hast Du denn Zeit?” und er seufzte “Für mich habe ich keine Zeit. Für alles sonst aber nicht für mich.” Der Friseur wurde nachdenklich und fragte das kleine und doch vertraute Wesen auf seinem Schoß: “Wie weise Du in Deinen jungen Jahren doch bist. Sag - wer bist Du eigentlich, dass Du einfach so hier herein spazierst und mit mir sprichst?”. Das Mädchen lächelte verschmitzt und sagte: “Ich bin Die Tochter Deines ältesten Sohnes und Du bis mein Opa.”
Da musste der vielbeschäftigte Geschäftsmann und erfolgreiche Unternehmer - der Friseur und Familienvater mit einem mal weinen. Das kleine Mädchen hatte in seinem bislang kurzen Leben so viel Zeit und Wahrheit gesammelt und er hatte davon nur so wenig übrig behalten, dass er nicht einmal gemerkt hatte, dass er Großvater geworden war. Wieviel von dem was in seinem Leben wirklich wichtig war hatte er verpasst. Wie sehr hatte er sich von der Zeit entfernt, die ihn wirklich reich hätte machen können?
So nahm der Mann seine Enkelin an der Hand und ging hinaus und mit ihr nach Hause. Er nahm sich die Zeit, die Familien seiner Kinder zu besuchen und freute sich an deren liebevollem Zuhause. Er fand Zeit, sich mit seiner Frau vor den Kamin zu setzen und sich berichten zu lassen von all den schönen Dingen, die diese in der letzten Zeit erlebt hatten. Er nahm sich sogar Zeit, in den Wald zu gehen und setzte sich danach zu den Menschen, die er einstmals als Freunde bezeichnet hatte. Auch dort wurde er mit offenen Armen empfangen und es war wie früher.
Der Mann war plötzlich wieder kerngesund. Seine Läden liefen verwunderlicher Weise auch ohne ihn weiter und der Friseur hatte Zeit. Zeit, die er früher nich vermutet hätte überhaupt zu haben. Das liebste aber war ihm nun, seiner kleinen Enkelin beim spielen zu zu schauen. Wie weise sie doch war. Sie hatte ihm gezeigt:
Mit der Zeit wird die Zeit immer wichtiger.
1
Es gab eine Frau, die lebte ein einfaches Leben. Ihr Mann war nach der Geburt des einzigen Kindes spurlos verschwunden. So musste sie von nun an alleine für den Lebensunterhalt des Kindes und sich selber sorgen. Seit diesen Tagen ging sie jeden Tag zu den Hühnern und sammelte eine Hand voll Eier ein. Sie nahm die reifen Kräuter aus ihrem kleinen Beet und las die Früchte unter den Bäumen am Wegesrand auf. Mit dieser Ernte ging die Frau täglich zum Markt und versuchte dort ihre Ware an den Mann zu bringen. An manchen Tagen konnte sie alles verkaufen - an manchen kaum etwas. Doch eines schaffte sie immer: Täglich konnte sie ihrem Kind ein warmes Essen bereiten, bevor dieses sich zur Nachtruhe legte. Die Frau saß dann neben dem Sprössling, streichelte dessen Kopf und sang das Kind in den Schlaf. Sobald sie dessen ruhigen Atem hörte kehrte Frieden ein und die Frau konnte für einen Augenblick entspannen. Ab und an schlich sich sogar ein Lächeln über ihr Gesicht.
So gingen die Jahre dahin und das Kind wuchs heran zu einem jungen Mann. Er zog aus, um sein Glück zu suchen und die Mutter ging weiterhin auf den Markt wie sie es immer getan hatte.
Tagein tagaus ging es so. Regen, Schnee, Sturm oder Sonnenschein - die Frau ging, um ihre spärliche Ware zu verkaufen. Ab und an kam Ihr Sohn sie zu besuchen. Dann brachte er seiner mittlerweile alten Mutter Lebensmittel mit aus der Stadt. Es schien ihm gut zu gehen und sie konnte seine Zufriedenheit in all seinen Erzählungen erkennen.
Nein - niemals war sie wohlhabend gewesen. Das Glück schien nicht auf ihrer Seite gewesen zu sein. Das harte Leben forderte seinen Tribut. Der Frau fiel es immer schwerer, ihrer täglichen Markt-Tätigkeit nach zu gehen. Sie lebte von einem Tag zum nächsten. Um sie herum veränderte sich die Dinge. Nachbarn zogen fort in ein vermeindtlich besseres Leben um nach ein paar Jahren wieder zurück zu kehren. Geläutert von den hochtrabenden Plänen und deren Gegenstück in der Realität. Alte Freunde starben an Krankheiten von denen die Frau noch nie gehört hatte und Fortschritt - so nannte man es nun - verbreitete sich allerorten.
Die Frau tat wie immer - versunken in uraltem Trott. Doch all das Schlechte um sie herum schien ihr nichts anhaben zu können. Einerseits machte es ihr Sorgen, nicht Schritt gehalten zu haben. Andererseits musste sie angesichts all der Probleme der anderen um sie herum mit dem Kopf schütteln.
Sie hatte immer eine Aufgabe. Sie hatte immer zu essen. Sie hatte körperliche Gesundheit. Sie hatte einen Sohn groß und stark gezogen. Die Frau hatte geglaubt, nichts zu haben. Doch hatte sie alles.
2
Eines Morgens war die Frau wieder einmal auf dem Weg in die Stadt um ihre Waren dort an zu bieten. Wie jeden anderen Tag ihres langen Lebens trug sie schwer an der Last der Körbe und Säcke. Ihr Kopf war gebeugt, ihr Blick gen Boden gerichtet. Versunken in Gedanken zog sie ihres Weges. Doch auf einmal sprach sie eine freundliche Stimme von der Seite an: “Nachbarin. Nun sehe ich dich bereits mein ganzes Leben lang allmorgendlich hier entlang ziehen.”, sagte ein Mann und lächelte die Frau an. “Nie gab es einen Tag, an dem es nicht so war. Schon oft habe ich mich gefragt, wie es dir wohl gehen mag. Du siehst bekümmert aus und das harte Leben scheint sich schwer auf deine Schultern zu legen.” Die Frau richtet sich auf, schaute dem Mann in die Augen und erwiderte: “Du hast recht. Mein Leben war ein hartes. Doch der Schein trügt. Keinesfalls liegt es mir schwer auf den Schultern. Ich habe ein gesundes Kind, dem ich alles mit auf den Weg geben konnte, was es benötigt um sein eigenes Leben zu leben. Nie war ich krank und jeden Tag darf ich mich glücklich schätzen, in der Natur zu sein, ein unabhängiges Leben zu führen und nie Hunger gelitten zu haben. Warum sollte ich nicht glücklich sein?”. Der Nachbar der Frau nickte. “Wir hier im Dorf haben uns oft gefragt, wie es wohl um dich bestellt sei. Nie hörten wir von dir und keiner hatte jemals Kontakt. Wundert es dich, das wir uns wunderten?” Die Frau lachte ein wenig, denn sie hatte dieses Gespräch schon seit langem auf sich zukommen sehen. Sie antwortete: “Es ehrt mich, dass meine Mitbürger sich Gedanken um mich machten. Doch war es meine Entscheidung, keinen Kontakt zu suchen. So musste und durfte ich damit auskommen, mir selbst genug zu sein. Begleite mich ein Stück meines Weges und ich will dir erzählen.”
Der Mann willigte ein und die beiden begannen, die Landstraße zu wandern die aus dem Dorf heraus führte. “Ihr alle suchtet Glück und Erfolg in fernen Gegenden, die mir stets fremd erschienen”, sagte die Frau. “Die meisten von Euch kamen früher oder später zurück. Oft, weil sie nicht das fanden, was sie zu suchen glaubten. Viele von Euch bauten sich große, schmucke Häuser und brachten es zu Wohlstand. Doch glaube mir: Ich kann es sehen. Keiner von diesen Menschen ist dadurch glücklicher geworden.” Der Mann nickte zustimmend und sagte: “Du hast gut beobachtet. Doch bist Du glücklich geworden?” Als die Frau ihren nächsten Satz sagte, legte sie ihre alten Hände auf den Arm ihres Begleiters, schaute ihm tief in die Augen und ließ ihn nachdenklich zurück. “Jeder findet sein eigenes Glück. Trachte nie nach dem des nächsten. Glücklich sind die, die Ihren Weg gefunden haben. Wenn die Zeit gekommen ist, werden sie ruhen so wie sie es immer getan haben.”
3
Es kam, wie es jedem Menschen beschieden ist. Die alte Frau sah ihr Ende auf sich zu kommen. Die täglichen Wege auf den Markt und zurück waren zunächst kaum noch möglich - später unmöglich. Als die anderen Dorfbewohner von der Not der alten Frau hörten, war es schnell offensichtlich, dass sie sich kümmern müssten. Und so taten sie es. Jeden Tag kam einer der Nachbarn um der Mitbürgerin eine Mahlzeit zu bringen und ihr im Haus zu helfen. An den Wochenenden kam ihr Sohn aus der Stadt und tat ebenso.
So ging es noch eine Zeit bevor die alte Frau - nun schlussendlich ans Bett gefesselt - nach ihrem Sohn rufen lies um ihr Leben in die Hände der höheren Macht zu legen. In der Stunde des letzten Atemzuges versammelten sich alle um sie, öffneten die Fenster und zündeten eine Kerze an.
Schwermut legte sich über die Anwesenden. Einzig die Frau lächelte und hob an zu sprechen: “Was bedrückt Euch so? Schaut mich an. Ich bin froh. Warum seit ihr es nicht ebenso?” Der Nachbar, der sie vor Jahren angesprochen hatte, ergriff erneut das Wort für alle Anwesenden: “Zu lange haben wir neben Dir gelebt ohne zu begreifen, dass in Deinem eigenen Weg so viel Kraft lag. Zu spät erst haben wir den Wert dieser ganz besonderen Nachbarschaft begriffen. Nun sind wir traurig, Dich zu verlieren”. Die Frau nahm seine Hand. In ihrer anderen hatte sie die des Sohnes. “Sieh: Ich habe Euch, ohne es je gesagt zu haben, ein Beispiel gegeben. Das Leben ist in all seinen Facetten lebenswert. Bewertet es nicht nach dem Offensichtlichen. Lass es geschehen und wenn Du offen dafür bist, wird sich Dir die Schönheit in allem zeigen. So ist es geschehen. Dieses ist mein Vermächtnis. Ich habe keine weltlichen Güter zu vergeben. Aber diese Lehre durften wir gemeinsam lernen. Es ist eine große Weisheit, die wir alle dadurch erlangen durften. Ich habe Teil an dieser. Das ist für mich genug”.
Der Sohn wandte sich an seine Mutter und fragte: “Wir werden Dich vermissen. Wo wirst Du sein”? Seine Mutter entgegnete: “Schau die millionen Sterne im Himmel. Kannst Du sie tagsüber sehen? Nein - aber Du weisst, sie sind da. So wird es Euch ergehen. Ich bin nicht mehr sichtbar, aber ich werde immer bei Euch sein. In Euren Erinnerungen lebe ich weiter. Und nun geht und feiert ein Fest auf Eure neu gefundene Freundschaft und auf alles, was Euer Leben Euch noch bringen mag”.
Damit schlief die alte Frau lächelnd ein. Die Dorfbewohner gingen nach draußen, wo all die Sterne funkelten, von denen die weise Frau gesprochen hatte. Sie feierten ein Fest wie sie es gesagt hatte. Alle lebten von nun an in der Gewissheit:
Lebe das Leben im Bewusstsein: Was für Dich bestimmt ist, wird Dich finden. Sei bereit, es zu greifen und Du wirst glücklich sein.
Es gab einen jungen Mann. Früh schon wurde ihm prophezeit, dass er nicht lange zu leben haben würde. So entschied sich der Mann, die ihm verbleibenden Jahre fröhlich und bewusst zu leben. Wie jeder andere um ihn herum ging er zur Schule und wuchs heran. Doch schon bald machten sich die ersten Anzeichen der Prophezeiung bemerkbar. Der Junge war schwächer als die Kameraden. Wenn diese dem Ball hinterher rannten, war er an den Spielfeldrand gebannt. Wenn die anderen Jungs sich auf dem Schulhof rauften, war er abseits und zurückhaltend. Ergriffen seine Freunde handfeste Berufe, griff der junge Mann zu seinen Büchern um zu studieren. Doch niemals hörte man ihn murren. Am Rand des Fußballfeldes hörte man ihn die Kameraden lauthals anfeuern. Auf dem Schulhof war er für seine klärenden Worte beliebt. Seine große Belesenheit fand mit der Zeit ebensolchen Anklang, wie die körperliche Kraft seiner Mitschüler. Und so wurde der junge Mann immer als gleichwertiger Teil der Gemeinschaft gesehen. Wo andere den vorher bestimmten Weg gingen, fand er andere Mittel und konnte so immer teilhaben. Ehe sich alle versahen, war die ihm vorher gesagte Zeit längst verstrichen und jeder Tag wurde zu einem Geschenk. Dafür war der junge Mann dankbar und konnte sich seiner Zeit immer wieder aufs neue freuen. Doch es kam die Stunde, da ihm bewusst wurde, dass nun seine Prophezeiung eintreten würde und er sich mit dem Ende der fröhlichen Tage abfinden müsste. Seine Freunde und Familie versammelten sich um ihn und versanken in Traurigkeit. Es wurde ihnen bewusst, wie sehr der junge Mann seinen Platz in ihrem Leben hatte und wie sehr sie ihn vermissen würden. Doch der Mann verlor nicht seinen Frohsinn und sagte: “Ihr solltet nicht traurig sein, denn zusammen waren wir stark und ich hatte mehr Zeit mit Euch, als uns prophezeit war. Wir waren reich, denn wir hatten gemeinsame Zeit. Wir waren sehr reich, denn wir hatten mehr gemeinsame Zeit, als andere.” Und der Mann lächelte im Augenblick als er seine Augen für immer schloss. Freunde und Familie fanden so Trost im Augenblick der Trauer, denn sie sahen einen zufriedenen Angehörigen vor sich. Und sie wussten, er hatte Recht, als er gesagt hatte: “Wir waren sehr reich, denn wir hatten mehr Zeit gemeinsam als die meisten Menschen!"
Es gab einmal einen Mann. Er war stattlich, stark, mutig und allseits beliebt. Er genoss das Leben in vollen Zügen und liebte sein Leben. Er hatte eine ihn liebende Familie um sich und seine Freunde mochten seine offene, lebenslustige Art.
Sein ganzes Leben lang hatte der Mann im Dienste anderer gearbeitet. Er fand große Befriedigung in der Erledigung harter körperlicher Arbeit und erntete viel Anerkennung für das getane Handwerkstück, das er am Ende des Tages in Händen hielt. Es war das Ergebnis großer Erfahrung und Geschicklichkeit auf die der Mann so stolz war - die all seine Lebensweisheit und all seine guten wie schlechten Erlebnisse in sich einschloss.
Am liebsten allerdings war er in der Natur. Er liebte den Geruch der feuchten, aufgewärmten Erde. Er mochte es sehr, an warmen, sonnenreichen Sommertagen die Schuhe aus zu ziehen und mit bloßen Füßen über den Waldboden zu schlendern und den Vögeln in den wogenden Baumwipfeln bei Ihrem Gesang zu zu hören.
So war es allen ihn liebenden Menschen klar: Dieser Mann war beides. Ein hart arbeitender und zuverlässiger Kerner - gleichzeitig aber auch ein warmherziger und weicher Mitmensch.
Eines Tages überraschte ihn während eines Spaziergangs ein Gewitter. Der Regen prasselte nieder. Der Wind böhte auf und schoss mit sturmstärke laut heulend durch den lichten Wald und ließ die Bäume erzittern. Die vormals warme Luft bekam diesen eigenartigen, leicht süßlichen Geruch, der typisch ist für ein plötzliches Sommergewitter.
Der Mann - überrascht während seines Ausflugs - war hin und her gerissen zwischen Begeisterung und Entsetzen. Eigentlich wollte er die Kraft der Natur genießen - die Ozon-haltige Luft tief einatmen und in vollen Zügen leben. Andererseits wusste er: Er sollte sich schützen - trocknende Deckung suchen.
Und so geschah, was passieren musste: Der plötzlich herab zuckende Blitz suchte sich seinen Weg in den stattlichsten Baum des Waldes direkt neben dem eingeschüchterten Spaziergänger. Laut krachend spaltet er den hundertjährigen Riesen und ließ dessen kräftige Äste laut berstend herab prasseln.
Einer dieser Ableger suchte sich seinen Weg diekt auf den Mann hernieder und in dem Augenblick, in dem der Mann urplötzlich und unweigerlich getroffen werden sollte, erschien es dem stattlichen Mann vor Augen: Das ganze Leben mit all seinen offenen Fragen, den ungeklärten Sachverhalten, den ungesagte Worten, den unwiederruflichen Fehlern und unbezahlten Rechnungen erschien vor ihm.
Und es war ihm, wie als würden Wochen und Monate vergehen - in diesem Augenblick, an dessen Ende unweigerlich alles zu Ende sein würde. Was danach passieren sollte, war so unklar und undeutlich, dass es keinen Sinn machte, sich gerade jetzt damit zu beschäftigen. So fasste sich der Mann ein Herz und nutzte diese Gelegenheit. Sein Herz schlug wild pochend in seiner Brust und seine Kehle schnürte sich zunehmend.
Aber im Stillen dieser langanhaltenden Sekunden konnte er abschließen. Hatte das Leben ihm bis jetzt nicht gezeigt, das alle Fragen sich irgendwie geklärt hatten? Hatte er sich nicht darauf verstanden, alle ungeklärten Sachverhalte durch einen kühlen Kopf zu klären? War er nicht bekannt dafür gewesen, immer ein offenes Ohr zu haben und alles geradeheraus aus zu sprechen? War es nicht so, dass alle seine Fehler ausgebügelt werden konnten - entweder durch ihn selbst oder durch einen mitfühlenden Freund?
So lange dieser Augenblick des Abschieds ihm erschien, so kurz war er doch in Wirklichkeit. Der Mann ließ los, ließ sich fallen, segelte hinüber und schloss ab mit dem was gewesen war. Sein letzter Gedanke ließ ihn im guten gehen: Es ist alles gut - Dein Leben wurde genommen, aber Du hast Liebe gegeben - Mehr kann ein Mensch nicht tun!
Eine schwere Krankheit befiel einmal eine Frau. Sie würde nicht mehr lange zu leben haben. Voll schweren Mutes ging sie auf einen langen Spaziergang und hing ihren schweren Gedanken nach.
Sie ließ sich auf eine Bank am Wegesrand nieder und versank in Traurigkeit ob der schweren Last, ihre Familie zurück lassen zu müssen. Die vielen Dinge, die nun ungetan, ungesagt und unerfüllt bleiben mussten senkten sich wie Blei auf Ihre Seele.
Da ließ sich ein kleiner Spatz freudig zwitschernd zu Füßen der Frau nieder. Er hüpfte links und rechts, pickte nach Samenkörnern, legte das Köpfchen schief und schaute der traurigen Frau direkt ins Gesicht.
Zunächst wusste diese nicht recht, wie ihr geschah. Doch dann bemerkte sie, dass sie den Vogel mit feiner Stimme mit sich reden hören konnte. Und er sagte zu ihr: „Ich sehe Dich hier traurig sitzend. Was grämt Dich so, alte Frau?“.
Die Frau atmete tief als sie dem Vogel antwortete: „Das Leben liegt nun als solch schwere Bürde auf mir. Was wird geschehen? Wo werde ich sein? Was wird mit meiner Familie? Was, wenn ich nicht mehr alles erledigen kann, was ich tun wollte?“
Und der Spatz hüpfte auf die Bank gleich neben die Frau. „Oh auch ich bin manchmal traurig. Dann weiß ich nicht, was einmal aus mir werden soll. Werden alle meine Wünsche wahr werden? Ich weiß es dann nicht und hüpfe weiterhin umher. Dann leb ich von Samenkorn zu Samenkorn und freue mich des Lebens.“
Die alte Frau sah den kleinen Freund an, lächelte ein wenig und entgegnete: „Du hast gut reden. Du musst nur von Samenkorn zu Samenkorn leben. Ich aber trage Verantwortung und die Natur hat es so gewollt, dass ich nach vorne denke. Das macht mir Sorgen.“
Da entgegnete der Spatz: „Das mag schon sein. Aber schau, Dein Leben geht dem Ende zu. Solltest Du nicht gerade jetzt fröhlich sein? Du kannst nichts mehr tun, außer in Frieden ab zu schließen. Deine Familie wird Dich fröhlich und zufrieden in Erinnerung behalten. Hast Du jemals einen traurigen Vogel gesehen? Auch wir müssen einmal sterben.“
„Kleiner Freund“, entgegnete die Frau „Du hast recht. Mein Leben war ein Geschenk und ich werde in Dankbarkeit gehen können. Auf das meine zurück gebliebenen sich mit Freude an mich Erinnern mögen.“
Es gab einen Fischer. Dessen Ein und Alles war es, hinaus zu fahren auf´s Meer. Die Kraft zu spüren, die die Natur gewaltig macht. Die Einsamkeit zu spüren und ihr ausgefliefert zu sein. Das erfüllte ihn mit großem Glück. Oft fuhr seine Familie mit aufs Meer hinaus und verbrachte die langen Tage mit dem Vater an Bord des Kahns, der ihm genauso Zuhause war, wie das Haus des Mannes an Land. Auch das erfüllte den Fischer mit Zufriedenheit.
Nun begab es sich, dass er eines Tages ganz alleine heraus fuhr. Das Meer war ruhig und es war nicht zu befürchten, mit wiedrigen Bedingungen rechnen zu müssen. Alles war gut. Der Motor des Bootes schnurrte, die Sonne wärmte die Haut des Fischers und die Fische meinten es gut mit ihm. In tiefer Zufriedenheit auf sein Leben blickend, gönnte sich der Mann eine Ruhepause auf seinem Lieblingsplatz an Bord.
Da traf es ihn aus heiterem Himmel und ganz ohne Vorwarnung: Der Atem wurde ihm schwer, sein Herz krampfte sich zusammen und die Gliedmaßen versagten ihren Dienst. Dem Mann auf seinem Boot - langsam in der ruhigen See wiegend - wurde bewusst: Du stehst nun am Ende Deines Lebens. Und wie er es schon oft zuvor gehört hatte, traten in diesem Augenblick all die Bilder seines Lebens vor sein Auge.
Er hatte sich nicht verabschieden können. Hatte nicht einmal Gelegenheit gehabt, seiner Frau liebevoll lebewohl sagen zu können. Seine Kinder und Enkel wussten nicht, wo er war und es waren Tage vergangen, seit er sie das letzte mal gesehen hatte. War denn alles für die Zeit danach geregelt? Würden sich alle ohne ihn zurecht finden? Wie würden sie ihn finden? Würden sie sich allzu lange grämen müssen?
Aber mit seinem letzten Atemzug besann er sich eines Besseren: Schon immer hatte er sich darum gemüht, alles in bester Ordnung zu haben und zu hinterlassen. Er war mit niemandem in Gram auseinander gegangen.
Nichts hatte er sich vor zu werfen und alle würden früher oder später über den Verlust hinweg kommen. So lehnte er sich zurück, schloss die Augen, atmete die salzige Meerluft ein, hörte einen letzten Möwenschrei. Und konnte los lassen. Er hatte keine Sorgen und musste keine Schmerzen erleiden. Der Fischer lächelte, denn er wusste, er würde sein, wo er am liebsten war: Auf dem Meer.
Es gab eine Frau, die hatte einen Mann, dessen Broterwerb es war, Häuser zu bauen. Es waren große, kleine, einfache und prachtvolle Gebäude dabei und der Häuserbauer war stolz auf jedes einzelne von ihnen.
Wie es aber jedem von uns beschieden ist, kam die Zeit, als der Häuserbauer zu schwach wurde, sein Tagwerk zu verrichten. Seine Hände wurden zu schwach, sein Augenlicht ließ nach und sein Herz ließ ihn kurzatmig werden.
Mehr und mehr musste seine Frau ihn bei den täglichen Verrichtungen unterstützen und als es nicht mehr von der Hand zu weisen war, dass seine letzten Tage kommen würden, wurde es dem Mann schwer ums Herz. Wie gern würde er noch einmal sein Werkzeug behend schwingen und mit geübter Hand Stein um Stein aufeinander setzen - das Holz zuschneiden und verleimen, auf das es ein stabiler First würde.
Da sagte seine Frau zu ihm: „Lass uns zu Deinen Häusern fahren und noch ein letztes mal Dein Werk begutachten“. Und so fuhren die beiden von einem der vom Hausbauer erschaffenen Bauwerke zum nächsten. Bei jedem einzelnen verweilten der Mann und seine Frau ein Weilchen. Sie musste ihm beschreiben, um welches es sich handelte, denn er konnte es mit eigenem Augenlicht nicht mehr erfassen. Der Hausbauer wiederum lächelte jedes einzelne mal und konnte viele Geschichten rund um die Entstehung des Gebäudes erzählen. Er kannte jedes Detail und wusste, wer darin zuhause war. Er war wach und hellen Geistes - lebte geradezu noch einmal auf in seinen Erinnerungen.
Beim letzten Haus, dass er und seine Frau besuchten, verweilten sie sehr lange. Der Hausbauer berührte es mit seinen mittlerweile Pergament-farbenen Händen und seufzte hörbar. Seine Frau erschrak und sah ihn besorgt an. Doch auf dem Gesicht des Mannes bemerkte sie ein seliges Lächeln.
„Frau“, sagte er „lass uns nach Hause gehen. Ich habe gesehen, ohne dass ich es sehen musste: Mein Leben hatte einen Sinn. Ich habe überdauernde Dinge geschaffen und werde so vielen Menschen über Generationen in Erinnerung bleiben. Das ist gut. Lass uns nach Hause gehen.“ Auf dem Heimweg sagte seine Frau dann: „Du hast Recht: Mehr kannst Du in Deinem Leben nicht mehr erreichen, als das Du Dinge geschaffen hast, mit denen sie Dich in Verbindung bringen.
Wenige Tage nach der Rückkehr in ihr gemeinsames Heim, verstarb der Mann friedlich und ohne Gram in den Armen seiner zurück bleibenden Frau. Und sie war trotz aller Trauer um den Verlust stolz, Teil des Lebens dieses großen Menschen gewesen zu sein.
Es gab ein Mädchen. Das lebte unbeschwert und genoss das Leben. Es hatte viele Freunde, war beliebt und stand bald an der Schwelle zu einem erfüllten Erwachsenenleben.
Eines Tages erhielt es die Nachricht von der schweren Krankheit seiner engsten Vertrauten und besten Freundin. Das Mädchen eilte sofort zur Wohnung der jungen Frau und ließ sich erzählen. So erfuhr es, dass die Vertraute ihr gesamtes Leben von nun an umstellen werden müsse. Nie wieder würde sie ohne Beschwerde sein und nur noch wenige Jahre - wenn nicht sogar nur Monate - zu leben haben.
Da entschloss sich das Mädchen kurzerhand, ab nun an bei der Freundin zu bleiben. Ihr zu helfen und die verbleibende Zeit mit ihr zu verbringen. So musste es abschließen mit dem bisherigen Leben und ein neues beginnen. Zunächst waren die beiden Mädchen frohen Mutes - konnten zusammen spazieren und das Leben genießen. Doch zusehends verschlechterte sich der Gesundheitszustand der Freundin und sie bedurfte immer mehr Pflege durch das Mädchen. Aufopferungsvoll versah es ihre Pflichten mit großer Hingebung und fand große Genugtuung darin, dem geliebten Menschen in diesen schweren Zeiten Trost und Hilfe sein zu dürfen.
Doch in ihrer Umgebung regte sich Verwunderung. „Du musst Dein eigenes Leben leben“ „Vergiss nicht, für Dich selber zu sorgen“ und „Am Ende wirst auch Du das Schicksal nicht abwenden können“ verlautete es rundherum. Doch das Mädchen lies sich nicht beirren - stand zu seiner Entscheidung und zu der leidenden Freudin. Bei der blieb es treu und sorgend bis zu dem Tag, als es Abschied nehmen hieß. Das Mädchen war die erste in der Reihe derer, die am Grab der Freundin lebewohl sagten.
Fortan umgab die mittlerweile junge Frau ein besonderer Glanz. Es hieß, sie wäre noch schöner geworden, als man früher vermuten hätte können. Und die Menschen sagten, sie hätte einen unerschütterlichen, liebevollen Schimer in ihren Augen. Ihr ganzes Leben widmete sie sich danach der Pflege hilfsbedürftiger Menschen und erntete dafür nicht nur große Anerkennung sondern geradezu Hochachtung. Sie sei mit heilenden Kräften versehen sagten die Leute. Oft wurde sie gefragt: „Woher nimmst Du diese Gabe?“. Und jedes mal entgegnete das Mädchen in der Frau: „Ich habe einen geliebten Menschen verloren, dem ich alles gegeben hatte, was ich konnte. Doch dieser Mensch hat mir damals mit auf den Weg gegeben, dass jedes mal, wenn ich ein anderes Lebewesen in den letzten Stunden beistehe, diese Zeit auf mich übergehen wird. So werde ich immer da sein. Ich bin wirklich reich!“
Es gab einen Mann, der hatte ein erfülltes Leben mit Genugtuung im Beruf und es litt ihm kein Mangel. Seine Familie wuchs und wuchs und bald war er nicht nur Groß- sondern sogar Urgroßvater.
Wenn es ihn grämte oder wenn er Ruhe brauchte zog es den Mann ans Meer. Die Möwen kreischten auf der Suche nach Futter und vollführten kühne Flugmanöver um an den besten Fisch zu kommen. Das Wasser plätscherte mal - mal toste es. Aber er konnte immer die große Kraft in der See erkennen und empfand diese ebenso in der Beobachtung der Naturgewalt. Die Fischer fuhren tagtäglich und bei jedem Wetter - egal ob Sturm oder Schnee - früh am Morgen hinaus, um bei Dämmerung mit dem Fang heim zu kehren. Jedes mal ertönte das sonore Horn und weckte den Mann aus seinen Tagträumen. Spaziergänger passierten den Mann auf seinem Platz und sammelten auf ihrem Gang neue Energie für´s Tagwerk oder sie spielten mit den Kindern und Enkeln am Wasser. Auch das freute den Mann und ihm war dadurch ebenso neue Kraft gegeben.
Es kam der Tag, an dem dem Mann bewusst wurde, dass das Leben endlich ist und seine Tage gezählt sein würden. Wieder ging er auf seinen Platz am Meer und versank in Grübeleien. Würde er leiden müssen? Was passiert mit meiner Familie? Wo werde ich sein, wenn ich nicht mehr hier bin? Die Welt um ihn herum schien schwermütiger zu sein, als die anderen Tage.
Da erblickte er ein einsames, kleines Boot, das sich los gemacht zu haben schien. Herrenlos wurde es von der Flut mitgenommen. Niemand schien davon Notiz zu nehmen und keiner kam zur Hilfe. Auch der Mann konnte nichts tun. So blickte er dem herrenlosen Boot hinterher wie es auf den Wellen schaukelte, gedreht wurde und so immer kleiner wurde bis es seinem Blick entschwand und hinterm Horizont seiner Wege schwamm. Wo würde es hin gelangen? Würde sich jemand seiner annehmen? Würde das Boot mit der Zeit alt und schwach werden und im Meer versinken? Er wusste es natürlich nicht. Aber er musste lächeln. War nicht sein Leben wie das Boot? Es wogte hin und her. Es hatte Höhen und Tiefen. Auch sein Leben würde der Natur übergeben werden, wenn er nicht mehr wäre. Das erfüllte den Mann mit großer Gewissheit.
Das Boot auf dem Meer hatte ihm die Antwort auf seine Fragen in den letzten Stunden gegeben: Du treibst hinaus und über den Horizont hinweg. Du wirst nicht weg sein - lediglich an einem anderen Ort um einer anderen Bestimmung zugeführt zu werden. So konnte der Mann beruhigt nach Hause gehen und seinen letzten Tage zufrieden entgegen sehen. Er würde nicht weg sein - lediglich an einem anderen Ort.
Eine schwere Krankheit befiel einmal eine Frau. Sie würde nicht mehr lange zu leben haben. Des Nachts lag sie wach und fand keinen Schlaf mehr. So ging sie auf einen langen Spaziergang und hing ihren schweren Gedanken nach.
Sie ließ sich auf eine Bank am Wegesrand nieder und versank in Grübeleien. Die vielen Dinge, die nun ungetan, ungesagt und unerfüllt bleiben mussten senkten sich wie Blei auf Ihre Seele. Betrübt wie die Frau nun war, hob sie Ihren Blick gen Himmel. Es war eine sternenklare Nacht und am Firmament funkelte und strahlte es wunderschön. Die Sternschnuppen flogen zu dutzenden und eine verirrte sich ganz herunter auf die Erde.
Sie fiel der Frau direkt in den Schoß und leuchtete dort fröhlich noch ein Weilchen weiter. Die Frau traute Ihren Ohren nicht, aber eine feine Stimme schien zu ihr zu sprechen: “Ich sehe Dich betrübt, Erdenbürgerin. Was macht Dich melancholisch?”. Die Frau wunderte sich ein wenig, doch antwortet sie indem sie sagte: “Meine Tage sind gezählt und ich werde die Erde verlassen. Ich weiß nicht, wo ich sein werde. Was wird aus mir und meiner Seele, wenn ich nicht mehr bin?”. “Oh”, entgegnete der kleine Himmelsbrocken “Das kann ich Dir sagen. Schau uns Sterne an. Wir sind immer da. Ob Tag oder Nacht. Nur kannst Du uns nicht immer sehen. So wird es auch Dir ergehen. Du wirst nicht mehr sichtbar - nicht mehr greifbar sein. Aber Du wirst immer da bleiben. Denn die zurück gebliebenen werden sich weiter Deiner Erinnern. Deine Liebe wird sie weiter begleiten. Du wirst nicht weg sein - nur nicht mehr sichtbar!”. Mit den letzten Worten verglühte die Schnuppe in den Händen der Frau und ein Lächeln huschte über deren Gesicht. Die Worte hatten sie getröstet. So konnte sie nun beruhigt nach Hause gehen und sich zur Ruhe legen.
“Ich werde nicht weg sein - nur nicht mehr sichtbar”.